Es gibt Bilder, auf denen sieht Julia aus Zug«ganz normal» aus. Diese machen ihre Mutter Melanie Della Rossa besonders traurig, denn Julia ist behindert und rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen.
«Gesundes Mädchen» hatte der Arzt nach Julias Geburt ins Gesundheitsheft notiert. An diese Worte haben sich Melanie Della Rossa und ihr Mann Roman lange geklammert. «Ich spürte, dass etwas nicht stimmt, aber wir haben lange die Augen verschlossen und hofften, dass Julia nur ‹entwicklungsverzögert› ist», erzählt Melanie Della Rossa aus Zug. Die Familie wohnt seit zehn Jahren im Gimenenquartier.
An die ersten Jahre mit ihrer Tochter erinnert sich Melanie Della Rossa heute nur noch schemenhaft, denn Julia kam kaum zur Ruhe – auch nachts nicht, da Angelman-Kindern das Schlafhormon fehlt (siehe Box), wie die Familie inzwischen weiss. Heute ist das ganze Familienleben auf Julias Behinderung ausgerichtet. Sie schläft in einem speziellen Pflegebett, aus dem sie nicht entwischen kann; die Treppe ist mit einem Julia-grossen Türgitter gesichert, der Zugang zur Küche sowieso. «Ich darf Julia keine Sekunde unbeaufsichtigt lassen – sie kennt keine Gefahren», so die Mutter.
Das Angelman-Syndrom ist die Folge einer angeborenen seltenen genetischen Veränderung im Bereich des Chromosom 15. Im Schnitt tritt es bei einem von 25000 Neugeborenen auf. Charakteristisch ist eine starke Verzögerung der körperlichen und geistigen Entwicklung und das Ausbleiben der Sprache. Die geistige Entwicklung der meisten Betroffenen erreicht in etwa den Stand von Kleinkindern. Melanie und Roman Della Rossa haben 2013 den Angelman-Verein Schweiz gegründet, dem inzwischen 43 Familien angehören. Weitere Infos finden Sie unter www.angelman.ch (kpf)
Die richtige Diagnose erhielt die 2007 geborene Julia im Alter von vier Jahren. Die Worte «Julia hat das Angelman-Syndrom» seien einerseits ein Schock gewesen, weil der Familie bewusst geworden sei, dass ihre Tochter für den Rest ihres Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sein werde. Aber sie machten auch den Weg frei für andere Perspektiven. «Nachdem mit klar wurde, dass Julia nie wird sprechen können, hörten wir auf, darauf zu hoffen und begannen damit, mit ihr andere Kommunikationswege zu finden.»
Wenn Julia aus der heilpädagogischen Schule Zug nach Hause kommt und von ihrem Tag erzählen möchte, tut sie das, indem sie auf ihrem iPad auf die entsprechenden Bilder und Symbole zeigt. Der einzige Laut, den Julia sprechen kann, ist «äh».
Zwei Stunden braucht Melanie Della Rossa jeden Morgen, um Julia für die Schule fertigzumachen. Neben der psychischen Belastung ist auch die körperliche gross. Immer wieder trägt Melanie Della Rossa ihre 1,37-Meter-grosse und 35-Kilogramm-schwere Tochter, weil sie nicht laufen will oder von ihren Epilepsie-Medikamenten zu unsicher auf den Beinen ist. «Ich wünsche mir, dass Julia nie merkt, wie eingeschränkt sie ist, und wie viel Hilfe sie braucht.» An den guten Tagen sei sie sich sicher, dass es Julia gut gehe, so wie es ist. «An den schlechten Tagen ist halt immer der Gedanke da, dass das nicht das Leben ist, das man sich für das eigene Kind wünscht.»
Um ihre Trauer zu verarbeiten, hat Melanie Della Rossa angefangen zu schreiben und ihre Texte auf Facebook öffentlich gestellt. Die Resonanz war gross. Daraufhin beschloss sie, ein Buch über den Alltag mit ihrer Angelman-Tochter zu schreiben und im Eigenverlag zu veröffentlichen. Die erste Auflage mit 1500 Exemplaren war innerhalb von zwei Monaten fast ausverkauft; die zweite Auflage ist in Produktion.
In «Ohne Liebe ist es nicht zu schaffen» kommen auch Melanie Della Rossas Mann Roman, die Grosseltern und der «Heldenbruder» Yanis zu Wort. Julia zu betreuen, ist eine Teamaufgabe und regelmässige Auszeiten für alle Beteiligten gehören dazu, da sonst irgendwann die Kraft ausgehe, wie Melanie Della Rossa aus Erfahrung weiss.
Julia kennt keine Gefahren und auch keine Berührungsängste. Sie geht offen auf ihre Mitmenschen zu; versucht sie etwa an den Haaren zu ziehen oder ihnen die Finger ins Ohr zu stecken. «Da Julia auf den ersten Blick nicht behindert aussieht, hat das auch schon dazu geführt, dass uns gesagt wurde, dass wir das Kind besser erziehen müssten.» Viel lieber als solche Bemerkungen ist Melanie Della Rossa, wenn jemand direkt fragt, warum Julia anders ist. Dadurch hätten sich schon viele gute Gespräche ergeben.
Das Angelman-Syndrom ist nicht heilbar. Die Betroffenen haben eine normale Lebenserwartung. «Wie Julias Zukunft aussieht, wissen wir noch nicht und ich möchte momentan auch noch nicht zu viel darüber nachdenken», so Melanie Della Rossa. «Sie wird ihren Lebensweg auf ihre Art gehen müssen.»