Gedanken zum tieferen Sinn der Coronapandemie
Das Glück setzt uns ein Mass und allen fährt es in die Glieder. Es war damit zu rechnen, dass in einigen Jahren die Natur der Unfähigkeit des Menschen, sich selbst, seinen ungezügelten Begierden, seinem berechnenden Denken und der rücksichtslosen Ausbeutung mit gewaltigen Umweltkatastrophen die Grenzen aufzeigen wird. Die Aussicht besteht nach wie vor. Aber offenbar wollte die Natur nicht so lange warten. Vielleicht leidet sie jetzt schon zu sehr an Atemnot und Überhitzung und wollte sich schon jetzt ein wenig Luft und Abkühlung verschaffen. Sie holt sie es sich bei denen, die ihr beides streitig gemach haben, bei uns Menschen.
Schon die Bankenkrise im Jahr 2008 hätte uns lehren können, bescheidener zu werden. Aber wir vergessen schnell. Von der raschen wirtschaftlichen Erholung, dem rasanten Wachstum neuer Märkte und der digitalen Entwicklung berauscht und verblendet hielten wir uns alsbald wieder für allmächtig. «Mass und Mitte zu bewahren, ist selten geworden», klagte Konfuzius vor 2600Jahren. Jetzt hat ein erneuter Wirkungstreffer eingeschlagen, wie heftig weiss noch keiner, aber jeder bekommt ihn zu spüren. Wieder trifft er uns unvorbereitet, weil wir nicht dazulernen wollten. Aber die Weisheit ist ein seltenes Gut. Sie hatte noch nie eine Chance gegen die Macht der Wirtschaft und die Natur des Menschen. Dass alles kippen könnte, hätte uns bewusst sein müssen. Die Geschichte verläuft in Zyklen und hat immer gezeigt: Dem Auf folgt ein Ab, dem Ausdehnen ein Zusammenziehen, dem Einatmen ein Ausatmen, für Goethe die «ewige Formel des Lebens».
Übersteigt das, was wir gegenwärtig erleben und was noch zu befürchten steht, unsere Fähigkeit zu erdulden? Demut, Bescheidenheit und Duldsamkeit ist der erste Schritt, schweren Herausforderungen des Lebens zu begegnen. «Weise verstehen, Unglück in Glück zu verwandeln», meinte Konfuzius. Aber sind wir weise? Das Beste aus der gegenwärtigen Situation zu machen, ist das Gebot der Stunde, darum sollte sich ein jeder ernsthaft bemühen. Ob uns das gelingt, hat viel mit unserer inneren Haltung zu tun, mit der Bereitschaft und Aufgeschlossenheit, die Zeichen zu verstehen, mit der Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln, der Bereitschaft, aus all dem Schrecklichen, Leidvollen, Tragischen und Traurigem etwas zu lernen. Wenn wir unsere Denk-, Wollen- und Verhaltensgewohnheiten nicht ändern, wird das für die Zukunft dramatische Folgen haben.
Vielleicht begreifen wir endlich, wie sehr wir auf die Natur angewiesen sind, wie sehr unsere Gesundheit und unser Wohlergehen abhängen von einer gesunden Natur, deren innere Harmonie und organisches Gleichgewicht wir nicht zerstören können, ohne auch uns selbst zugrunde zu richten.
Anita Wagner Weibel, Theologin, Rotkreuz