KONZERT: Ein vollkommener Interpret für die Stücke von Gustav Mahler

Gustav Mahler lud am Freitag nach Zug. Beziehungsweise sein Stellvertreter. Denn es gibt kaum einen passenderen Platzhalter für den Meister der neuen Romantik als den englischen Tenor Ian Bostridge.

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Ian Bostridge überzeugte im Theater Casino Zug. (Bild: Priska Ketterer/ Zuger Sinfonietta (8. Dezember 2017))

Ian Bostridge überzeugte im Theater Casino Zug. (Bild: Priska Ketterer/ Zuger Sinfonietta (8. Dezember 2017))

Gustav Mahler war ein Dieb. Er hatte sich musikalisch schonungslos bei allem und jedem bedient und daraus etwas Neues gemacht. Mahler nahm bekannte musikalische Sujets, setzte diese zum Beispiel von Dur in Moll und fügte noch dies und das hinzu. Erst recht durch die vokale Feingliedrigkeit entsteht dadurch etwas Spannendes, Neues und Aufregendes. Heute würde man dieses Vorgehen vielleicht als «Sampling» bezeichnen.

Dass Mahler gestohlen hat, ist heute ein Glücksfall. Denn so schaffte es der österreichische Komponist, neue und spannende Klangwelten zu erzeugen. Mahler sagte einst, eine Symphonie solle «die ganze Welt enthalten». Dass er damit Ernst machte, wurde am Freitag nach wenigen Minuten klar, denn die Zuger Sinfonietta und der englische Tenor Ian Bostridge fanden in der ersten Sekunde zueinander.

Mahler lockt Musiker aus der Komfortzone

Mahler fordert in seinen Kompositionen oft ein «Flimmern» der Instrumente und sphärische Klangwelten. Dieses Flimmern kann nur von Musikern erzeugt werden, die ihre Instrumente absolut beherrschen, wie die Sinfonietta es offenbar tut. Selten waren die Damen und Herren so präsent wie am Freitag bei Mahler. Denn die Instrumente werden bei Mahler aus der Komfortzone gelockt und bewusst strapaziert, teils sogar in mühsame Lagen gebracht. Der Komponist hat einmal gesagt, dass Bässe und Fagott in den höchsten Tönen zu quieken haben und nur so ein entsprechendes Gesamterlebnis erzeugt werden könne.

Mahler ist dennoch nicht jedermanns Sache, das Theater Casino Zug war nicht ausverkauft. Bei Ticketpreisen von 80 Franken ist dies aber auch nicht ganz verwunderlich. Offenbar setzte das Theater Casino nicht auf «niederschwellige» Angebote, was gerade im Fall dieses Komponisten bedauerlich ist.

Denn der «neue Klassiker» Mahler würde durchaus auch jüngere Zuhörer ansprechen. Gibt es doch kaum einen anderen Komponisten, der so mutig, spannend und nicht anbiedernd avantgardistisch war. Seine Musik fordert Extreme – auf Instrumentenseite zum Beispiel eine Kuhglocke, vokal nach aussergewöhnlichen Sängern.

Ein grossartiger Könner mit später Berufung

Wie der Tenor Ian Bostridge. Der Brite ist als Person schwer zu fassen, er stammt aus einer Arbeiterfamilie und hat erst in seinen späten 20er-Jahren mit dem Singen begonnen. Der Sänger hat zuvor Bücher geschrieben wie «Witchcraft and Its Transformations». Ein Mensch also, der extrem vielschichtig und wenig schubladisierbar ist. Das hätte Gustav Mahler gefallen.

Nach einem Vorfall im vergangenen Jahr in Bregenz – ein Konzertbesucher hatte ihn aufgefordert, Deutsch zu lernen – wollte Bostridge nicht mehr im deutschsprachigen Raum auftreten. Schön, hat er es dennoch wieder gemacht. Denn die Stimme von Bostdrige ist derart facettenreich, eindrücklich und bewegend, dass sie der Welt nicht vorenthalten werden darf. Da gab es kaum Unsicherheiten, und wenn welche spürbar waren, war nie ganz klar, ob diese nur gewollt oder effektiv vorhanden waren.

Mahler liebte die Gegensätze. Musikalisch eben noch in absoluter Freude, plötzlich in einem Totenmarsch: Solche Stimmungen vokalistisch wiederzugeben, bedarf stimmlich einer Grandezza, die wenige beherrschen. Ian Bostridge gelang dies mit gesanglichem Können sowie durch seine charismatische Präsenz.

Haymo Empl

kultur@luzernerzeitung.ch