Gegen 100 Schlingnattern leben am Ostufer des Zugersees, der Grossteil dort, wo derzeit die neue SBB-Doppelspur gebaut wird. Spezialisten treffen deshalb umfassende Ausgleichsmassnahmen und bringen die Schlangen einzeln in ihr neues Zuhause.
Der letzte Mittwoch bei den Bahngleisen am Bahnhof Walchwil. Seit Sonntag ist der offizielle Zugverkehr eingestellt und wird es auch bis Ende 2020 bleiben. Tierökologe André Rey und sein Kollege Oliver Seitz inspizieren die Bleche, die sie bei den Natursteinmauern am Rande der Strecke zwischen Walchwil und Lothenbach ausgelegt haben. Auf dem einen sonnt sich eine Eidechse, unter dem anderen liegt eine 50 Zentimeter lange Schlingnatter. «Das ist wirklich eine schöne Überraschung, dass wir gerade jetzt eine gefunden haben», sagt Rey. Sie hätten auch schon weniger Glück gehabt. «Letzten Herbst beispielsweise war es sehr warm und alle Nattern hatten sich deshalb verkrochen, sodass wir keine einzige fanden.» Im Oktober habe er noch eine entdeckt, aber zu spät, um sie wieder auszusetzen. «Sie überwinterte in meinem Keller», erinnert er sich und verstaut die Schlingnatter in einem Beutel.
Bevor sich der 48-Jährige vor fünf Jahren im Auftrag der SBB erstmals im Gebiet der zukünftigen Grossbaustelle «Zugersee Ost» umsah, war nicht bekannt, dass der Kanton Zug die Heimat dieser Schlangen (siehe Box) ist. «Es gibt eine Studie, wie einfach oder schwierig es ist, Reptilien im Feld nachzuweisen», erzählt Rey. Die menschenscheue Schlingnatter sei mit am schwierigsten zu entdecken. «Es heisst, man muss das Areal 34 Mal abgesucht haben, bevor man sicher sein kann, dass es keine gibt.»
Doch Rey hatte Glück und fand im Rahmen seiner Voruntersuchung während 20 Inspektionsgängen 12 Exemplare. «Das weisst auf eine grössere Population von vielleicht gegen 100 Individuen hin.» Die meisten davon bei den Natursteinmauern. Diese, so der Experte, seien der perfekte Lebensraum. Denn die Nattern seien auf eine Körpertemperatur von mindestens 20 Grad angewiesen, sonst könnten sie sich nicht schnell genug fortbewegen und seien leichte Beute für Räuber. «In den Ritzen der Mauer können sie sich verstecken und überwintern. Von den warmen Steinen beziehen die wechselwarmen Tiere ihre Wärme», erklärt Rey. Ein Zeichen für die üppige Sonneneinstrahlung an der Zuger Riviera seien die Kastaniensträucher, die überall hinter den Mauern wachsen. Doch genau diese Mauern sollen nun fürs zweite Bahngleis weichen.
Die Schlingnatter, auch Glattnatter genannt, ist eine zur Familie der Nattern gehörende Schlangenart. Der Name «Schlingnatter» geht auf das Verhalten zurück, dass grössere Beutetiere umschlungen und erstickt werden, bevor sie gefressen werden. Für den Menschen ist diese ungiftige Schlange völlig harmlos. Die Schlange erreicht eine Körperlänge von etwa 60 bis 75, gelegentlich auch 80 Zentimetern. Die Grundfärbung der Oberseite ist grau, graubraun, bräunlich oder rötlich braun. Bei Männchen dominieren braune bis rötliche Farbtöne, während die Weibchen oft eher grau sind. Die Schlingnatter kommt in weiten Teilen Europas und im westlichen Asien vor. In der Schweiz beherbergen der Jura, die Alpen und die Alpensüdseite noch intakte Schlingnatterbestände. Im Mittelland ist die Art in den letzten 50 Jahren stark zurückgegangen und regional bereits ausgestorben. Trotz ihrer ehemals weiten Verbreitung hat die Schlingnatter in der Schweiz einen im Vergleich geringen Bekanntheitsgrad. Oft wird sie nicht als eigene Art erkannt, sondern als vermeintliche Viper oder Kreuzotter totgeschlagen. (cg/pd)
Rey musste also Lösungen finden und Ausgleichsmassnahmen definieren, wie es bei einem Grossprojekt wie «Zugersee Ost» üblich ist. «Mein besonderes Augenmerk galt den Schlingnattern, da ihr Lebensraum in dieser Region überhaupt erst durch den Bau der Bahnstrecke entstand», erklärt der Tierökologe. «Und sie deshalb von diesem Gebiet abhängig sind.» Aber auch die anderen Reptilienarten würden von den Massnahmen profitieren. Dies sind nebst der Schlingnatter die Ringelnatter, die Blindschleiche, die Zauneidechse und die Mauereidechse. Nach Reys Planung wurden also oberhalb der Stützmauern neue Lebensräume angelegt, es sind Naturinseln am Hang, bestehend aus Steinen, Büschen und Brombeersträuchern. Denn die Mauern an der Bahnstrecke werden abgetragen. «Aber vorsichtig, um noch verbliebene Schlangen zu retten», wie Rey betont. Bei solchen Grossprojekten würden immer einige Tiere sterben, wichtig sei es, einen Grossteil zu retten und rechtzeitig umzusiedeln.
Dafür sind Rey und Seitz rund zweimal pro Woche selbst vor Ort und kontrollieren die rund 100 Bleche. «Der heutige Tag ist perfekt, da es geregnet hat und noch nicht so warm ist», stellt Rey fest. «Suchen die Schlangen einen Platz, um sich aufzuwärmen, finden sie ihn unter dem Blech.» Die Schlingnatter begleitet die Tierökologen nun auf eine kleine Reise. Denn rund zehn Minuten Fahrzeit entfernt am Walchwilerberg haben die Ökologen an einem kleinen Strässchen eine grosse Steinmauer errichten lassen. «Der Bauer hat so eine gratis Stützmauer und wir einen weiteren Platz für die Nattern bekommen», freut sich Rey. Denn alleine die Ausgleichsmassnahmen oberhalb der Baustelle hätten nicht genügt, um die Umweltbilanz wie vorgeschrieben auszugleichen. Und weiteren Platz habe es nicht gegeben. Rey lässt nun die Natter frei, aber nicht bevor er noch ein Foto von ihrem Muster gemacht hat. «Jede Schlingnatter hat ein individuelles Muster, anhand dessen wir sie bei den Nachkontrollen identifizieren können.» Sie ist hier auch nicht alleine, bereits haben einige Blindschleichen den Weg zur Mauer gefunden.
Um eine Verbindung zwischen altem und neuem Lebensraum zu schaffen, hat Rey am Rand der Wiese, die ins Tal zu den Gleisen hinunterführt, zudem zur Vernetzung kleine Steininseln eingerichtet. «Um diesen Weg zurückzulegen, braucht eine Schlange aber mindestens zwei Jahre», erklärt er. Rechtzeitig zum Ende der Bauarbeiten also.