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Die Zugerin Susanna Fassbind (76) gilt als Schöpferin der Nachbarschaftshilfe mit Zeitgutschriften. 2019 hat sie mit der Fondation Kiss die Schweizer Dachorganisation aufgebaut – bald starten Tests mit Blockchain.
Sie hat sich nicht weniger vorgenommen, als die Altersvorsorge schweizweit mit Zeitgutschriften zu revolutionieren. Doch beim Gespräch auf der Redaktion beschwichtigt Susanna Fassbind – farbiger Pullover, freundlich blickende blaue Augen: Natürlich werde sie oft als «Mutter» des Kiss-Konzeptes betitelt (siehe Box). Doch das Modell der Nachbarschaftshilfe sei als Ergänzung zur bestehenden Altersvorsorge gedacht.
«Kiss» steht für «Keep it small and simple». In lokalen oder regionalen Genossenschaften werden Mitglieder von Fachpersonen begleitet für die gegenseitige Unterstützung beim Einkaufen, Spazieren, bei Angehörigenentlastung, gemeinsamen Anlässen wie Kafi, Mittagstisch oder einfach durch Füreinander-Dasein. Die geleisteten Stunden werden dokumentiert und können sofort oder später bei Bedarf eingelöst werden.
Die Altersvorsorge gerät immer mehr unter Druck. Wie kann das Kiss-Konzept Abhilfe schaffen?
Susanna Fassbind: Indem sie Nachbarschaftshilfe leisten, bauen sich Genossenschafter neben den drei Säulen der Altersvorsorge eine vierte Säule mit Zeitgutschriften auf. Die investierte Zeit können sie beziehen, wenn sie selber auf Hilfe angewiesen sind. Der Vorteil: Unsere Säule ist unabhängig vom Börsengeschäft, von Renten und dem persönlichen Vermögen. Sie verliert ihren Wert nicht, denn eine Stunde ist immer gleich viel wert. So sollen ältere Menschen möglichst lange zu Hause bleiben können. 40 Prozent der Leute, die heute im Altersheim sind, könnten auch zu Hause betreut werden.
Im August haben Sie die Fondation Kiss aufgebaut. Was bezweckt die Stiftung?
Wir haben die Fondation Kiss ins Leben gerufen, um die bestehenden Kiss-Genossenschaften mit einer Dachorganisation zu unterstützen. Die Genossenschaften sollen vernetzt werden und von der gemeinsamen Infrastruktur und Erfahrung profitieren.
2011 gründeten Sie den Verein Kiss Schweiz mit. Wieso braucht es nun eine Stiftung?
Der Verein Kiss Schweiz befindet sich in Liquidation, die Fondation Kiss fokussiert stärker auf schweizweit einheitliche Grundlagen, welche die Arbeit der Genossenschaften erleichtern. Eine Stiftung hat ein grösseres Ansehen, denn sie ist gemeinnützig und verfolgt keinen Erwerbszweck. Wir möchten mit der Stiftung auch in Bundesbern und bei nationalen Organisationen ernster genommen werden. Wir bekommen bereits viel Zuspruch. Einen direkten Draht nach Bern haben wir auch durch den Zuger Ständerat Matthias Michel, der Stiftungsrat ist.
Wieso delegiert man Kiss nicht an die Behörden ab? Gewisse Gemeinden führen mit Erfolg eigene Projekte in der Nachbarschaftshilfe.
Freiwilligenarbeit kann man nicht von oben diktieren. Das sollte niederschwellig von Bürgern organisiert werden, denn so hat es die langfristigsten Erfolgsaussichten. Die Genossenschaft ist nicht umsonst die Rechtsform mit der längsten Lebensdauer. Jede Kiss-Genossenschaft ist unabhängig und vernetzt ihre Mitglieder untereinander.
Bis ins Jahr 2025 wollen Sie 70 Kiss-Genossenschaften gegründet haben. Ein ambitioniertes Ziel.
Derzeit bestehen 20 Kiss-Organisationen, zwei Genossenschaften im Kanton Zug: Cham gibt es seit 2015 und Zug seit 2016. Zudem wissen wir schweizweit von etwa 20 Gruppen, die eine Genossenschaft gründen möchten. Bis 2025 70 Genossenschaften zu haben, ist zwar ambitioniert. Doch unser Ansatz war es immer, möglichst zügig zu arbeiten.
Kiss steht für «Keep it small and simple». Widerspricht die Dachorganisation nicht dem Ursprungsgedanken?
Das gilt für die Genossenschaften immer noch: Der Zugang zu Kiss ist niederschwellig, man kann sich einfach vernetzen. Die Hintergrundarbeit ist aber viel komplexer, als wir angenommen haben. Im Moment sind wir daran, auf Stiftungsebene klare Grundlagen zu schaffen, von denen alle Genossenschaften profitieren. Dazu gehören Statuten, Steuerbefreiung, eine Software sowie Weiterbildungen.
Heute scheint es, als fehle vielen Menschen die Kiss- «Handelswährung» – nämlich sich Zeit zu nehmen.
Das sehe ich nicht so. Wir haben im Schnitt 30 Prozent Mitglieder, die vorher noch nie Freiwilligenarbeit geleistet haben. Die Zeitgutschriften sind für sie ein Anreiz, sich zu engagieren. Wichtig ist die gesteigerte Lebensqualität durchs Mitmachen, nicht die Gutschriften. Darum springen kaum Leute ab. Ich selber habe Tausende von Stunden geleistet. Für mich ist das nicht Arbeit, sondern eine Herzensangelegenheit.
Drei Viertel der Mitglieder sind Frauen. Sind sie hilfsbereiter, haben sie mehr Zeit?
Frauen leben länger, und Frauen suchen eher nach Gesellschaft. Es ist ein grosses Thema bei uns, dass besonders Frauen in der Altersvorsorge wenig Geld haben und oft vereinsamen. Hier sind Kiss-Genossenschaften wichtig, sie leisten Abhilfe.
Allein mit Zeit lassen sich die Genossenschaften aber dennoch nicht finanzieren.
Wir finanzieren uns grösstenteils über Gönner, auch Kantone und Gemeinden unterstützen uns. Trotzdem müssen wir viel Aufwand betreiben, um das Notwendigste bezahlen zu können. Auch hier bietet die Stiftung Chancen. Die Idee ist nun, enger mit Wirtschaft und Politik zusammenzuarbeiten. Besonders für Versicherer und Banken dürfte unser Modell attraktiv sein.
Was steht bei der Fondation Kiss 2020 sonst an?
Das entscheidet der Stiftungsrat. Was ich mir vorstellen kann: eine breite Information, eventuell mit Tagung zu Freiwilligenarbeit, Alters- und Zeitvorsorge. Darüber hinaus starten im Februar Tests mit einer Software Richtung Blockchain. Die Idee ist, dass die Zeitgutschriften künftig via Smartphone dokumentiert werden können. Ich habe bewusst kein Smartphone. Mit mehr Sicherheit im Netz beschaffe ich mir dann auch eines.
Susanna Fassbind (76) wohnt in Zug. Sie hat 2011 den Verein Kiss Schweiz mitgegründet, ist Präsidentin von Kiss Kanton Zug und hat die Fondation Kiss mitaufgebaut. 2017 erschien ihr Buch «Zeit für dich – Zeit für mich».