Karriere-Ende
Pierin Vincenz: Der Ikarus des Schweizer Bankings

Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz muss mit seinem Rücktritt aus dem Verwaltungsrat der Helvetia Versicherung seine Karriere beenden. Doch es hätte ihn auch schon früher treffen können.

Beat Schmid
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Ein Bild aus besseren Zeiten: Pierin Vincenz, ehemaliger Raiffeisen-Chef.

Ein Bild aus besseren Zeiten: Pierin Vincenz, ehemaliger Raiffeisen-Chef.

Sandra Ardizzone

Diese Woche ging eine beispiellose Bankerkarriere zu Ende. Mit seinem Rücktritt aus dem Verwaltungsrat der Helvetia Versicherung und der faktischen Verhängung eines Berufsverbots durch die Finanzmarktaufsicht (Finma) endete die berufliche Laufbahn von Pierin Vincenz (61) mit einem lauten Knall. Kein Mitglied des Schweizer Finanzplatzes schlug härter auf. Selbst gestrauchelte Aushängeschilder wie Marcel Ospel, Lukas Mühlemann oder Notenbanker Philipp Hildebrand sind nicht so tief gefallen.

Das unrühmliche Ende hätte schon viel früher kommen können. Erste konkrete Verdachtsmomente tauchten bereits vor zehn Jahren auf. Nur ging die Finma den Vorwürfen damals zu wenig hartnäckig nach. Sie beauftragte die Prüffirma PWC, gewisse Geschäfte vertieft anzuschauen.

Diese war aber gleichzeitig Auditor von Raiffeisen und deshalb in einem wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis. Wenige Monate später hiess es dann, dass die Abklärungen nichts Zählbares vorgebracht hatten. Dass die jetzige Untersuchung tiefer ging, hat auch damit zu tun, dass die Finma nun einen unabhängigen «Prüfbeauftragten» einsetzte. Es handelte sich dabei um die Firma Deloitte, die keine namhaften wirtschaftlichen Verflechtungen mit Raiffeisen hat.

Keine Immunität mehr

Dass es die Finma heute ernster meint als vor zehn Jahren, unterstreicht eine tiefgreifende Veränderung in der schweizerischen Bankenaufsichtstätigkeit. Waren hohe Bankkader früher nahezu immun gegen aufsichtsrechtliche Verfahren, müssen sie heute mit der vollen Härte der Bankregulatoren rechnen. Dass die Finma mit Pierin Vincenz einen der prominentesten Banker der Schweiz «zur Strecke» gebracht hat, zeigt mit aller Deutlichkeit, dass selbst den ganz Grossen zu Leibe gerückt wird, wenn sie sich nicht an die Regeln halten.

Pierin Vincenz wurden letztlich eine Reihe privater Transaktionen zum Verhängnis, die er im Umfeld von Firmen tätigte, an denen Raiffeisen beteiligt war. Gemäss Recherchen gehen diese heiklen Geschäfte bis ins Jahr 2009 zurück. Damals kaufte die auf Bezahllösungen spezialisierte Firma Aduno das Unternehmen Commtrain Card Solutions.

Schon vor bald zehn Jahren gab es Quellen, die glaubhaft darlegten, dass Pierin Vincenz, der damals auch Präsident von Aduno war, mutmasslich über einen Mittelsmann an Commtrain beteiligt war und sich möglicherweise in einem klassischen Interessenskonflikt befand. Wie die gleichen Quellen damals darlegten, flossen die Gelder aus dem Kauf der Commtrain über Umwege zu Vincenz’ privater Beteiligungsfirma Varaplan, die an seinem Privatdomizil ihren Sitz hatte.

Dass Vincenz trotz praller Agenda und Millionenlohn noch den Kitzel von privaten Deals brauchte, ist für Normalverdienende kaum nachvollziehbar. Noch schwerer nachzuvollziehen ist auch, dass die RaiffeisenZentrale ihren CEO während Jahren gewähren liess. Wie es zu diesem Dulden und Wegschauen kommen konnte, wird von der Finma im parallel geführten Enforcement-Verfahren gegen die Bank abgeklärt.

Interessant wird sein, ob und wie das Verfahren auf Patrik Gisel abfärben wird. Was wusste der langjährige Stellvertreter und heutige CEO über die privaten Aktivitäten seines Vorgesetzten? Inwiefern trug er sie mit, indem er diesen oder jenen Vertrag mitunterzeichnete oder etwas nicht unterzeichnete, obschon er das möglicherweise hätte tun müssen?

Hofstaat in St. Gallen

Eine Erklärung, warum Pierin Vincenz schalten und walten konnte, wie er wollte, liegt an seinem dominanten Führungsanspruch. Er kann sehr charmant, gewinnend und einnehmend sein, aber auch unnachgiebig, starrköpfig und berechnend. Widerspruch erstickt er im Keim. Er neigt zum Mittel der plumpen Drohung, wenn etwas nicht so läuft, wie er es gerne hätte.

In Gesprächen sagte er gerne, dass er nach dem machiavellischen Prinzip des «Divide et impera» (teilen und herrschen) führe. Das kleinteilige Raiffeisen-Reich mit über 300 unabhängigen Genossenschaften bot ihm die perfekten Voraussetzungen. Jede dieser Einheiten ist für sich zu klein, um sich gegen die immer übermächtigere Zentrale zu wehren.

Der Hauptsitz der Raiffeisen in St. Gallen glich mit den Jahren einem Hofstaat. Er liess sich mit teuren Limousinen und persönlichem Chauffeur durchs Land kutschieren, um dann die letzten Meter bis zur Raiffeisen-Filiale zu Fuss zurückzulegen, damit es nicht auffällt. Er nutzte einen Helikopter, um seine Termine in der Schweiz wahrzunehmen, auch für Strecken zwischen St. Gallen und Bern.

Nicht nur ein-, zweimal im Jahr, sondern regelmässig. Verrechnet wurden die Flüge nicht über das ordentliche Spesenkonto. Nach dem Tod seiner ersten Frau verliebte er sich in eine Raiffeisen-Mitarbeiterin, die zur Rechtschefin aufstieg. Für seine Familie liess er sich im steuergünstigen Niederteufen AR für 12 Millionen Franken eine Villa errichten.

Da nicht börsenkotiert, musste die Bank die Löhne des Topmanagements nie offenlegen. Erst als Recherchen ergaben, dass Vincenz bis zu vier Millionen Franken Lohn bezog, kamen kritische Stimmen auf. Auch innerhalb der Genossenschaft. Unter Druck führte die Bank später einen Lohndeckel ein. Künftig sollte ein CEO nicht mehr als zwei Millionen Franken verdienen.

Er besoldete sich wie einen Grossbanker, er lebte wie ein Grossbanker. Aber er gebärdete sich weiterhin wie der bodenständige Genossenschaftsbanker. Vincenz inszenierte sich als Gegenentwurf zum abgezockten Bonusbanker vom Paradeplatz. Die biedere Fassade der Bauernbank diente ihm als perfekte Tarnung, um im Hintergrund riskante Geschäfte zu betreiben.