René Rhinow über die schwammige Wahrnehmung des politischen Geschehens.
Eine seltsame Frage: Muss denn die Wirklichkeit ihre Wirklichkeit beweisen? Doch der Titel eines Buches des österreichisch-amerikanischen Kommunikationsforschers Paul Watzlawick aus dem Jahr 1976 lautet so. Also ist die Frage doch berechtigt? Werfen wir einen Blick auf die politischen Debatten in unserem Land. Wie oft verweisen Politiker und Politikerinnen auf die Wirklichkeit, begründen ihre Forderungen mit der Realität, so wie sie sie zu kennen glauben? Wie oft machen behauptete Wirklichkeiten die Runde am Stammtisch, getreu nach dem Refrain des Kabarettisten und Komikers Massimo Rocchi: «S’isch e so u fettig»?
Das Problem der erfassbaren Wirklichkeit beschäftigt die Philosophiegeschichte seit ihren Anfängen. Es ist untrennbar mit Wahrnehmung und Kommunikation verbunden. Die Wirklichkeit wird vor allem zum Problem, wenn ich mit anderen Menschen über das, was für mich eine Wirklichkeit ist, kommuniziere und ihm meine Sicht bewusst oder unbewusst «beliebt» machen möchte. Doch Kommunikation ist ein schwieriges Unterfangen. Sie findet nicht nur auf der Sachebene statt, sondern kann geprägt und beeinflusst sein von meiner physischen Verfassung, von Emotionen, die mich prägen, von den Wahrnehmungsmöglichkeiten des Empfängers der Botschaft und von dessen sozialem Stand oder seiner Lebenssituation. Das kennen wir aus dem privaten und gesellschaftlichen Bereich.
Kommunikation kann nur gelingen, wenn Sender und Empfänger dasselbe unter den verwendeten Begriffen verstehen. Doch das ist gerade in der Politik oft nicht der Fall. Wir diskutieren über Souveränität, Unabhängigkeit, Neutralität, über Konkordanz, Bürgerlichkeit, links und rechts, Liberalismus – und verstehen oft gar nicht das Gleiche darunter.
Protagonisten, die solche Begriffe verwenden, beanspruchen oft – bewusst oder unbewusst – ein Definitionsmonopol. Sie und nur sie behaupten zu wissen, was unter dem Begriff zu verstehen ist. Ja, sie biegen ihn teilweise auch aus ideologischen Gründen und zur Legitimation ihrer politischen Haltung zurecht, verfremden ihn von ihrer geschichtlich gewachsenen Bedeutung. So wird beispielsweise die Konkordanz von einem gewachsenen «weichen» Element unseres politischen Systems zu einem zurechtgebogenen Kampfbegriff für die Sitzverteilung im Bundesrat.
Zudem nehmen wir Wirklichkeiten nur selektiv wahr, weil wir das «Ganze» gar nicht erfassen können. Ein Vergleich mit der Theaterbühne scheint mir die Thematik plastisch aufzuzeigen: Das Scheinwerferlicht beleuchtet regelmässig einen Ausschnitt des Bühneninventars, die gerade sprechenden Schauspieler zum Beispiel. Die restliche Ausstattung bleibt im Dunkeln. Aktuell wird die Wirklichkeit für den Betrachter von der Bedienung des Schweinwerfers bestimmt. Diese selektive Wirklichkeit ist unser tägliches Brot. Was ich aus Wirklichkeiten herausfiltere, muss nicht der Auswahl meines Gesprächspartners entsprechen.
In der Politik ist die Erfassung von Wirklichkeit dann besonders schwierig, wenn ich gar keinen direkten Zugang zu Tatsachen oder zum Geschehen haben kann. Wirklichkeiten werden dann vor allem medial vermittelt und sind vom Empfänger kaum überprüfbar. Was in der Welt oder in der Bundespolitik alles geschieht, kann ich nicht wissen, denn ich werde nur mit dem Ausschnitt konfrontiert, der mir über Internet, Presse oder Rundfunk übermittelt wird. Dieser Ausschnitt ist selektiv, subjektiv gewertet und oft auch politisch gesteuert. Forumszeitungen sowie Radio und Fernsehen sind in der Regel bemüht, die Berichterstattung nachvollziehbar und einigermassen ausgewogen zu gestalten. Andere Medien kochen ihre ideologische Suppe und schneiden sich die Wirklichkeit passend zurecht. Ereignisse, die ich nicht überprüfen kann, bilden oft die Grundlage für Behauptungen, die als Wirklichkeit ausgegeben und mit der Zeit auch «als Wirklichkeit» geglaubt werden (was auch das Ziel ist). Wie leicht und einträglich ist es beispielsweise, dem Bundesrat vorzuwerfen, er habe schlecht verhandelt oder sei «eingeknickt»? Wer sass denn am Verhandlungstisch? Wer weiss schon, ob eine bessere Verhandlungsführung auch ein besseres Resultat eingefahren hätte? Die Behauptung lässt sich weder verifizieren noch falsifizieren, und ob sie «wirklich» ist, werden wir nie wissen.
Die Lehre aus dieser Erkenntnis: Behauptete Wirklichkeiten sind selektiv und subjektiv, sofern und solange sie nicht in eine gelungene Kommunikation münden. Bei Politikern und Politikerinnen, welche die Wirklichkeit für sich in Anspruch nehmen, ist Vorsicht am Platz. S’isch e so u fettig!
Der Autor, Jurist und FDP-Politiker, war Ständerat für den Kanton Basel-Landschaft von 1987 bis 1999 und von 2001 bis 2011 Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes.