Jurist und FDP-Politiker René Rhinow schreibt in seinem Gastkommentar zur Debatte über den Umgang mit dem Islam: «Freiheitsrechte sind primär Abwehrrechte; sie richten sich gegen den Staat.»
Nach der Abstimmung über die Minarettinitiative steht uns eine weitere Auseinandersetzung bevor, die vor allem Symbolcharakter trägt und zur realen Problemlösung im Umgang mit dem Islam nichts beiträgt. Für Liberale aller Schattierungen stellt sich die Gretchenfrage, wie sie es mit der Freiheit Andersdenkender oder Andersgläubiger halten. Und ob sich ein stichhaltiger Grund für eine Freiheitbeschränkung finden lässt.
Denn aus liberaler Sicht ist nicht die Freiheit rechenschaftspflichtig, sondern deren Begrenzung im übergeordneten öffentlichen Interesse. Für das Verbot eines Nikab werden vor allem vier Gründe geltend gemacht. Alle vier sind aus liberaler Sicht unhaltbar. Das Argument der Sicherheit ist offensichtlich verfehlt, denn Terrorgefahren sind bislang nicht von Nikabträgerinnen in der Schweiz ausgegangen. Jedenfalls lässt sich damit kein generelles Verhüllungsverbot rechtfertigen.
Wenn zweitens behauptet wird, es sei Ausdruck der Freiheit, dass man sich «ins Gesicht blicken kann», so wird Freiheit pervertiert. Denn Freiheitsrechte sind primär Abwehrrechte; sie richten sich gegen den Staat. Grundsätzlich können sich Burkaträgerinnen auf ihre Freiheit berufen, in ihrer Bekleidung nicht eingeschränkt (und nicht wegen einer Kopfbedeckung bestraft) zu werden. Gibt es aber ein überwiegendes öffentliches Interesse, das diese Freiheit einzuschränken vermag? Verbotsbefürworter argumentieren, es gehe um die kommunikativen Voraussetzungen unseres Zusammenlebens.
Doch was heisst das? Wollen wir Verbote und Strafnormen einführen, um das Zusammenleben zu erleichtern? Ist der Dialog in unserem Land primär durch Bekleidungsformen gefährdet? Gewiss tun Amtsstellen gut daran, die Gesichtserkennung im amtlichen Verkehr zu verlangen. Und jedermann ist berechtigt, den Dialog mit einer Person zu verweigern, wenn diese das Gesicht nicht offenlegt. Aber es gibt keine individuelle Rechtspflicht zur Teilnahme an zivilgesellschaftlicher Kommunikation! Und wie halten wir es mit den Trägern von Sonnenbrillen, welche sogar die Augen verdecken? Ganz abgesehen davon, dass die Ehefrauen der unser Land besuchenden Scheichs nicht dafür bekannt sind, sich an gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beteiligen zu wollen.
Ob es sich – drittens – beim Nikab um eine Frage der Glaubensfreiheit oder der Sitte des Herkunftslandes handelt, ist unter freiheitlichen Aspekten nicht ausschlaggebend. Die religiöse Neutralität der Schweiz verbietet es, religiös begründete Bekleidungsformen zu verbieten, wie es die persönliche Freiheit untersagt, dass der Staat Bekleidungsvorschriften für Individuen erlässt. Anders präsentiert sich die Lage bei Repräsentantinnen und Repräsentanten des Staates, wie etwa bei Lehrpersonen. Zudem: Was religiös begründet ist, hat nicht der Staat zu beurteilen. Erfüllt der Zwang zur Verhüllung den Tatbestand einer Nötigung, ist er heute schon strafbar.
Unter dem Aspekt der Gleichberechtigung der Geschlechter wird schliesslich bemängelt, dass dieser Zwang aus dem Blickwinkel der Gleichberechtigung und der Würde der Frau unhaltbar sei. Diese Argumentation muss man ernst nehmen. Denn nach unseren rechtsstaatlichen Vorstellungen hat jede Frau das Recht, über ihre Bekleidung selbst zu entscheiden. Abgesehen davon, dass es seltsam anmutet, wenn dieses Argument von Kreisen propagiert wird, die bislang kaum durch ihr Engagement für die Gleichberechtigung aufgefallen sind.
Dürfen wir im Sinne eines «feministischen Paternalismus» generell annehmen, dies sei bei allen Frauen der Fall? Aus liberaler Sicht sicher nicht, auch wenn der Nikab aller Wahrscheinlichkeit nach selten völlig freiwillig getragen wird. Doch was heisst freiwillig? Nach den mir zur Verfügung stehenden Informationen gehört in bestimmten islamisch geprägten Kulturen das Verhüllungsgebot in der Öffentlichkeit ab einer bestimmten Altersgrenze zum gelebten kulturellen Brauch.
Die strafrechtliche Ahndung einer Nikabträgerin führt zudem zu einer verheerenden Wirkung, die rechtsstaatlich unhaltbar erscheint: Während im Falle einer Nötigung durch den Ehemann dieser bestraft wird (sofern ihm der Zwang nachgewiesen werden kann), soll beim Verhüllungsverbot die Frau bestraft werden! So wird das angeblich zu schützende Opfer selbst unter Strafe gestellt – aus Gründen der Gleichberechtigung? Hier fällt die Gender- Argumentation in sich zusammen, denn man kann wirklich nicht geltend machen, zum Schutz der Frau müsse diese bestraft werden.
Man kann es wenden und drehen, wie man will: Aus liberaler Sicht gibt es meines Erachtens keine überzeugende Rechtfertigung für ein generelles Verhüllungsverbot. Gewiss: Auch ich störe mich an der Burka. Eine Störung des «Gewohnten» kann ein Ärgernis bedeuten, ein erhebliches gar, doch dies allein darf nicht Grundlage einer Strafbestimmung sein.