Menschen mit seltenen Krankheiten fühlen sich oft hilflos und im Stich gelassen. Saskia Karg kämpft um Aufmerksamkeit für dieses Thema und die Betroffenen. Auch bei Ärzten und Fachleuten.
Die Organisation ProRaris spricht von 7000 bis 8000 seltenen Krankheiten. Wie viele davon kennen Sie?
Biotechnologin Saskia Karg: Niemand weiss die Zahl genau. Seit meinem Studium der Biotechnologie habe ich mich in vielen Bereichen ausschliesslich mit seltenen Krankheiten befasst. Aber mindestens alle paar Wochen taucht wieder eine Krankheit auf, von der ich noch nie gehört habe.
Haben Sie ein, zwei Beispiele für eine seltene Krankheit?
Eine der häufigsten ist die zystische Fibrose, eine Stoffwechselkrankheit aufgrund eines Gendefekts, die zu Problemen mit der Lunge führt. Noch vor 20 Jahren wurden die Betroffenen maximal 20 oder 25 Jahre alt. Inzwischen ist das Durchschnittsalter auf 36 Jahre gestiegen. Die Krankheit wird bei Neugeborenen im Screening getestet und kann sofort erkannt werden. Deshalb ist sie besser behandelbar geworden. Auf der anderen Seite haben wir etwa das Dravet-Syndrom, bei der ein Gendefekt zu starken Epilepsien führt. Die Krankheit ist praktisch nicht behandelbar, Betroffenen haben eine kurze Lebenserwartung.
Was heisst eigentlich «selten» bei seltenen Krankheiten?
Eine Krankheit ist statistisch dann selten, wenn sie bei maximal einer von 2000 Personen auftritt. Doch die allermeisten seltenen Krankheiten haben eine Häufigkeit von 1:100000 oder 1:1000000. Weltweit sind häufig lediglich vier oder fünf Familien betroffen. Zählt man aber alle Personen zusammen, die an einer seltenen Krankheit leiden, sind wir bei 5 bis 8 Prozent der Bevölkerung, in der Schweiz also rund eine halbe Million Menschen. Also gleich viele, wie an Diabetes erkrankt sind.
Gibt es etwas, das alle oder viele seltene Krankheiten verbindet?
80 Prozent aller seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt. Entweder haben die Eltern schon defekte Gene, oder es kommt bei einem Kind zu Spontanmutationen. Was genau diese Mutationen auslöst, weiss man nicht. Je nach Beschädigung der Gene gibt es die unterschiedlichsten Ausprägungen und Schweregrade der Krankheit. Das macht ihre Diagnose und mögliche Behandlung sehr komplex. Eine zweite Gemeinsamkeit ist die Tatsache, dass Hausärzte und oft auch Fachpersonen vor einer grossen Herausforderung stehen, überhaupt zu erkennen, was die seltsamen Symptome bedeuten, und vor allem, an welche Fachstellen die Betroffenen weitergeleitet werden könnten. Die diagnostische Odyssee ist vielleicht die folgenschwerste Gemeinsamkeit dieser Krankheiten.
Können Sie das noch präzisieren?
Eine aktuelle Statistik weist aus, dass es durchschnittlich fünf Jahre dauert, bis eine seltene Krankheit diagnostiziert ist, und die Betroffenen bei durchschnittlich sieben Ärzten waren. Doch die Spannbreite ist gross. Es kann vorkommen, dass ein Arzt ein Kind nach der Geburt anschaut und die Krankheit sofort erkennt. Ich kenne aber auch den Fall einer Frau, bei der die ersten Symptome einer schmerzhaften Stoffwechselkrankheit schon mit zwei Jahren aufgetreten sind. Aber erst nach ihrer Pension konnte die Diagnose gestellt werden.
Was bedeutet das für Betroffene?
Sie sind oft gezwungen, sich selber zu helfen. Mütter von kleinen Kindern, die eine seltene Krankheit haben, finden kaum Experten, die ihnen weiterhelfen können. Die Betroffenen müssen sich ihr Wissen vielfach selber aneignen. Die Forschung gestaltet sich auch deshalb schwierig, weil die Patienten über die ganze Welt verteilt sind.
Sind seltene Krankheiten häufig schwere Krankheiten?
Das ist in der Definition inbegriffen. Wenn eine Krankheit selten ist, aber keine schwerwiegenden Probleme verursacht, würde man nicht von seltenen Krankheiten reden. Diese Krankheiten sind in aller Regel nicht heilbar. Nur für einen kleinen Teil – nämlich für 5 Prozent – gibt es Medikamente. Manchmal lassen sich gewisse Fehlbildungen operieren, um ein besseres Leben zu ermöglichen. Auch wird immer versucht, so gut als möglich die Symptome zu behandeln, so dass sich ein Kind trotzdem so gut wie möglich entwickeln kann.
Lässt sich denn meist einigermassen leben mit diesen Krankheiten?
Das ist sehr relativ. Jahrelang ohne Diagnose zu sein und mit den merkwürdigsten und oft auch sehr schmerzhaften Symptomen leben zu müssen, ist eine Herausforderung. Das Spektrum ist gross. Es gibt jene, die einen bestimmten Herzfehler haben und keinen Sport treiben dürfen. Oder jene, die aufgrund einer Stoffwechselkrankheit eine strenge Diät einhalten müssen: Essen diese Personen bestimmte Sachen, werden sie sofort schwer krank. Betroffene Kinder reisen dann mit einem eigenen Koffer voller Lebensmittel in ein Ferienlager.
Sie arbeiten als Spezialistin im Zürcher Universitäts-Kinderspital. Treten seltene Krankheiten häufig bereits im Kindesalter auf?
Ja, 50 Prozent treten bereits im Kindesalter auf. Manchmal sind sie direkt bei der Geburt erkennbar, andere manifestieren sich nach Wochen oder Monaten. Rund 30 Prozent der betroffenen Kinder erleben den 5. Geburtstag nicht. Viele, die diese Hürde nehmen, schaffen es bis ins Erwachsenenalter, allerdings mit einer kürzeren Lebenserwartung.
Wie erkennt man bei Kleinkindern, bei denen sich noch nichts Auffälliges zeigt, dass etwas nicht stimmt?
«Hört auf die Mütter!», sagt jeweils Professor Matthias Baumgartner, Forschungsdirektor am Kinderspital Zürich, zu den Medizinstudierenden. Mütter spüren am ehesten, wenn mit ihrem Kind etwas nicht stimmt.
Wie könnte man die Situation für Betroffene grundlegend verbessern?
Das grösste Thema ist sicher die Sensibilisierung, vor allem auch bei Fachpersonen: Dass sie bei zunächst ungewissen Phänomenen auch an die Möglichkeit einer seltenen Krankheit denken. Es gibt beispielsweise die Lungenkrankheit PCD. Sie kann sich unter der Krankheit COPD verstecken und wird häufig übersehen. Zur Sensibilisierung gehört, dass Ärzte und Fachleute auch mal ihre Kollegen fragen oder auswärts Expertisen einholen, wenn sie nicht weiterwissen. Auch Spitäler müssten viel stärker zusammenarbeiten. Wichtig wäre nicht zuletzt, ein Register der seltenen Krankheiten aufzubauen. Wir haben sehr wenig Zahlenmaterial, so werden wir kaum wahrgenommen. Nur dank Studien können wir Genaueres über die einzelnen Krankheiten erfahren und vielleicht Therapiemöglichkeiten finden.
Das Kinderspital Zürich hat seit ein paar Jahren eine Helpline eingerichtet. Wie wird diese genutzt?
Sie ist unverzichtbar. Es ist eine kostenlose Dienstleistung für die ganze Deutschschweiz. In der Westschweiz gibt es bereits ein solches Angebot. Die Mitarbeitenden der Helpline helfen Betroffenen bei der Suche nach Experten. Sie recherchieren und sind hartnäckig. Sie zeigen Ärzten, auf was sie achten müssen. Sie suche Literatur heraus oder forschen nach Studien und Expertisen. Kooperation und Vernetzung sind mit dem Internet einfacher geworden. Auch Patienten können einfacher andere Betroffene finden. Diese Vernetzung ist zentral: Betroffene werden häufig zu Experten. Dieses Wissen gilt es, zu nutzen.
Wie realistisch ist es, dass die geforderten Massnahmen machbar sind?
Ganz viele der Massnahmen, die schon ganz viel bringen würden, sind weder teuer noch kostentreibend. Im Gegenteil könnten mit einer besseren Sensibilisierung und Vernetzung sogar Kosten gespart werden, da viele unnötige Massnahmen und Therapien auf dem Weg zu einer Diagnose wegfallen würden.
Kürzlich wurde der Fall einer 31-jährigen Frau publik, die an spinaler Muskelatrophie leidet. Sie sammelte für ihre Therapie via Crowdfunding Geld – 600 000 Franken. Ist denn die Behandlung seltener Krankheiten so extrem teuer?
Therapien sind häufig sehr teuer. Davon profitiert aber nur ein Bruchteil aller Patienten. Denn für die allermeisten seltenen Krankheiten gibt es gar keine geeigneten Therapien oder Medikamente. Es ist also für ganz wenige sehr teuer. Was mich an solchen medienwirksamen Fällen stört, ist der Fokus. Der Einzelfall wird thematisiert, das ist eine Verzerrung. Und es kann nicht die Lösung sein, dass alle Betroffenen Crowdfunding machen. Wir haben ein System, das verändert werden muss, damit es für alle Betroffenen besser wird. Dass Medikamente so teuer sind, hat mit dem System zu tun, das dies zulässt. Doch der Fokus auf die Medikamente ist auch zwiespältig.
Warum?
Wichtige Verbesserungen könnten wir mit relativ einfachen Mitteln erreichen. Das würde viel mehr Menschen dienen, als wenn nur eine Person ein Medikament kriegt. Gesundheitsversorger und Ärzte haben die Aufgabe, das möglichst Beste für jeden Patienten zu erreichen und nicht nur für diejenigen, bei denen es eine Therapie gibt. Verbesserungen sind schon dort möglich, wo Patienten ernst genommen werden, Unterstützung und Linderung erhalten und alles darangesetzt wird, eine Diagnose zu erhalten, damit die Krankheit und ihr Verlauf verstanden werden kann.
So bitter ein Einzelschicksal auch sein kann: Steht unsere Gesellschaft in der Pflicht, allen Kranken eine optimale Behandlung zukommen zu lassen, oder gibt es Grenzen?
Das ist eine ethische Diskussion. Sie wird auch bei sehr alten Patienten geführt oder solchen, die nach einem Unfall im Koma liegen. Das muss in jedem Fall individuell beantwortet werden. Wir sind noch sehr weit davon entfernt, an den Punkt zu kommen, an dem es für alle Krankheiten entsprechende Medikamente gibt.
Und für die Forschungsindustrie ist es nicht lukrativ, ein Medikament zu finden, das nur wenigen Menschen zugutekommt.
Gerade deswegen ist es wichtig, dass man diese Art Forschung an den Universitäten macht. Diese sind nicht gewinnorientiert. Aus der Forschung lassen sich häufig Erkenntnisse gewinnen, die auch für stärker verbreitete Krankheiten relevant sein können. In anderen Ländern gibt es nationale Programme, die speziell den seltenen Krankheiten zugutekommen. Wir haben jetzt beim Nationalfonds einen Antrag für ein Forschungsprogramm eingereicht und hoffen sehr, dass wir Anklang finden.
Die in Luzern wohnhafte Biotechnologin Saskia R. Karg (41) leitet das Projekt «Zentrum für seltene Krankheiten» der Zürcher universitären Spitäler und ist seit 2013 im Bereich seltener Krankheiten am Kinderspital Zürich tätig.
Saskia Karg gehörte unter anderem längere Zeit dem Vorstand von ProRaris an, dem Dachverband für Patientenorganisationen von Menschen mit seltenen Krankheiten. ProRaris führt zum Tag der seltenen Krankheiten am Samstag, 2. März, im Universitätsspital Basel eine grosse Publikumsveranstaltung durch. Thema: «Aus der Isolation ins Netzwerk». Mehr unter: www.proraris.ch
Gratis-Helpline: selten@kispi.uzh.ch oder 044 266 35 35