Trotz Rückkehr zur Normalität: Das Küsschen-Geben hat seit der Pandemie ausgedient. Stattdessen drückt man sich. Unseren Autor freut's.
Auch wenn uns diese Experten einmal mehr davor warnen, dass die Gefahr keineswegs ausgestanden sei, hat sich die Angst vor Corona in der breiten Bevölkerung gelegt. Maskentragende wirken schon bald wieder exotisch, Schnäpse werden wieder getrunken, statt zu Desinfektionsflüssigkeit verarbeitet, und das noch vor zwei Jahren als Wundermittel gepriesene und danach fast nicht mehr erhältliche «Echinaforce» wird jetzt zum Schleuderpreis abgesetzt.
Eines allerdings ist geblieben: Küsschen zur Begrüssung und zum Abschied sind wie schon seit dem Ausbruch der Coronaseuche weiterhin tabu. Am Anfang war das nur logisch: Der von Bundesrat Berset geforderte Mindestabstand von anderthalb Metern zum Mitmenschen verunmöglichte die Küsserei schon rein theoretisch. Es sei denn, man verfügt über einen giraffenartigen Hals, was aber nur den wenigsten beschieden ist. Obwohl es Alain Berset – etwa als Hobbypilot – selber nicht so genau nahm mit dem Abstand zu verbotenen Zonen, habe ich diese Empfehlung stets befolgt, wie die meisten anderen auch. Schluss mit Kuss.
Im Einzelfall bedauerte ich das ein wenig, obwohl es einen davor bewahrte, dauernd zu überlegen, wer – wenn überhaupt – wie viel geküsst werden möchte. Einst noch war zwei Mal die Regel. Allmählich ging man dann dazu über, noch einen draufzusetzen, also drei. Es gab allerdings welche, die konservativ beim Zweier blieben. In den Jahren vor Corona setzte sich dann, insbesondere unter Jüngeren, vermehrt das Solo durch. Ein (1) Kuss, wobei es weiterhin Abweichlerinnen und Abweichler gegeben hat, die sich nicht damit begnügten. Kam ein Grüppchen zusammen, war es fast unmöglich, den Überblick zu behalten. So gesehen trauerte ich der Küsserei nur wenig nach. Küsse im klassischen Sinne waren es ja ohnehin nicht. Viele verpufften ins Leere, saftige Dauerbrenner waren zu Recht verpönt. Mit kleinen Ausnahmen.
Trotz schwindender Corona-Angst: Begrüssungs- und Abschiedsküsschen erleben kein Comeback. Stattdessen drückt man sich nun unter näheren Bekannten und Freunden kurz aneinander, ohne auch nur die leiseste Andeutung eines Kusses. Ich finde das eine praktische Alternative, wobei es auch beim Drücken diverse Varianten gibt. Kurz und knapp, länger und inniger, manchmal fast nur symbolisch. Zudem ist Drücken genderneutraler. Auch Männer drücken sich gegenseitig, geküsst hatten sich früher nur wenige. Frauen wiederum hatten diesbezüglich seit je weniger Hemmungen und schreckten vor dem eigenen Geschlecht nie gross zurück.
Ich bin überzeugt, dass die Drückerei länger beibehalten wird, zumal man sich fragen müsste: Was denn sonst? Ein gegenseitiger Kniestich oder ein beherzter Rippenknuff mit dem Ellbogen wäre nicht so schicklich. Zwar ist die Übertragung von bösen Keimen auch beim Drücken nicht ausgeschlossen, aber man macht es trotzdem sorgloser, möglicherweise aus der Hoffnung heraus, dass beim Zusammenprall von zwei Körpern die Viren nicht nur mitgedrückt, sondern auch zerdrückt werden und einem nichts mehr anhaben können.
Alles in allem: Das neue Grussritual ist nur zu begrüssen. Auf ein bisschen mehr oder weniger Druck kommt’s zumindest bei mir sowieso nicht mehr drauf an, und überhaupt: «Nur unter Druck entstehen Diamanten», heisst ein altes Sprichwort. Vielleicht wird ja doch noch mal etwas Edles aus einem.