Dieser französische General und Ukraine-Experte «bewundert die Schweizer Armee»

Der französische General Michel Jakowlef schiesst mit Sprüchen nur so um sich – auch bei seinen Analysen zum Ukraine-Krieg. Es gibt sogar einen Twitter-Account, der seine besten Pointen sammelt. Im Interview erklärt der Punchline-Offizier, warum sich Frankreich das Schweizer Miliz-System zum Vorbild nehmen sollte.

Antoine Menusier, watson.ch/fr
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Der ehemalige Fremdenlegionär und Enkel eines russischen Soldaten, der 1918 Russland verliess, ist mittlerweile im Ruhestand. Zurückgezogen hat er sich jedoch noch lange nicht: Der pensionierte Generalleutnant tritt beim französischen Fernsehsender LCI als Experte für den Ukraine-Krieg auf. Der Twitter-Account «La Punchline de Yakovleff», der seine besten Aussagen und Sprüche sammelt, gehört ihm aber nicht.

General Jakoflew ist Mitglied des «Institut des hautes études de défense nationale» (Institut der Studien zur nationalen Verteidigung). Im Interview mit «Watson» bewundert er die «heldenhafte» Vergangenheit der Schweizer Armee, beobachtet den grossen Bedarf an Manpower im Ukraine-Krieg und möchte das Modell «RS/WK» nach Frankreich importieren.

Was heisst «Schweizer Armee» für Sie?

General Michel Jakowlef: Für mich ist es die Erinnerung an eine heroische Schweizer Armee, die während des Zweiten Weltkriegs mobilisiert wurde. Sie hat Hitler schlussendlich dazu gebracht, nicht in die Schweiz einzumarschieren, weil er Angst hatte, sich auf eine komplexe Aktion einzulassen.

«In gewisser Weise ist die Schweizer Armee das beste Beispiel für Abschreckung. Im Nachhinein erfuhr man, dass diese Haltung aufgebauscht war, aber auch eine gewisse Substanz dahintersteckte. Wahrlich ein schönes Beispiel.»

Wer hat Sie so begeistert?

Ich wurde 1976 in die französische Armee einberufen und habe mich dann als Berufssoldat verpflichtet. Von da an lernte ich Schweizer Kameraden kennen. Während des Kalten Krieges war die Schweizer Armee sehr gross, gut ausgebildet und gut betreut.

Haben sie Schweizer Militärgelände besucht?

Ja. Ich komme von der Kavallerie, wie man in Frankreich die Panzertruppen nennt. Darum habe ich 1995 den Waffenplatz Thun, wo das Ausbildungszentrum für mechanisierte Truppen ist, besucht. Die Ausbildung, die ich dort am Panzer Leopard 2 gesehen habe, konnte man mit der französischen und auch der schwedischen vergleichen; die Schweiz hatte ja eine Zusammenarbeit mit der schwedischen Armee, welche auch mit dem deutschen Panzer ausgestattet war.

Angehörige der Armee auf dem Waffenplatz in Thun.

Angehörige der Armee auf dem Waffenplatz in Thun.

Bild: Peter Schneider/KEYSTONE

Haben Sie sonst noch Verbindungen zur Schweiz?

Ich hatte eine Tante, die in der Schweiz lebte und dort auch starb. Als Kind war ich zu Besuch bei ihr. Da habe ich ein Buch gelesen, das hiess «Zivile Verteidigung». Wenn ich mich recht erinnere, wurde es den frisch Verheirateten zusammen mit dem Familienbuch ausgehändigt. In diesem für den Kalten Krieg gedachten Handbuch gab es viele Erklärungen und Erläuterungen: wie man sich vor einer Atomexplosion schützt; wie man mit verstrahltem Wasser umgeht; wie man die Lebensmittelvorräte für die Familie verwaltet; wie man die Vorräte aufstocken kann; wie man Verbände und provisorische Tragen herstellt usw. Es war wirklich ein umfassendes Buch.

Im Fernsehen auf LCI, wo Sie als Berater zum Krieg in der Ukraine auftreten, haben Sie die Schweizer Armee gewürdigt und gesagt, dass die französische Armee sich von ihr eine Scheibe abschneiden könnte. Inwiefern?

In Frankreich wird zurzeit diskutiert, ob man der Armee mehr Tiefe, also mehr «Masse» verleihen soll. Unser Berufsheer ist mit 106'000 Mann letztlich doch recht begrenzt, was die Ressource Soldat angeht. Auch wenn ausgeschiedene noch fünf Jahre lang abrufbar bleiben.

Das ganze Interview mit LCI.

Video: Youtube/LCI

Wie gross ist denn die Gesamtstärke der französischen Armee?

Insgesamt umfassen die französischen Streitkräfte – Heer, Luftwaffe und Marine – 250'000 Mann. Das Heer hat, wie bereits erwähnt, eine Stärke von gut 106'000 Soldaten, was in etwa der Manpower der Schweizer Armee nach der Mobilisierung entspricht. Dazu kommen noch gut 20'000 zivile Angestellte. Momentan ist noch eine Aufstockung von 40'000 auf 80'000 Reservisten geplant. Das sind entweder die erwähnten Ex-Soldaten, die auf Abruf sind, oder zivile Leute, die eine Ausbildung machen, wieder nach Hause gehen und im Fall des Falles als operative Reserve eingezogen werden.

Kann man diese ausgebildeten Zivilisten mit den Schweizer Milizsoldaten vergleichen?

Nein. Und genau das sollte man ändern.

Präsident Jacques Chirac hat 1996 den obligatorischen Militärdienst abgeschafft. Würden Sie eine Wiedereinführung befürworten?

Persönlich gesehen – ja. Er sollte sich aber in einem vernünftigen Rahmen bewegen. Nicht zu kurz, nicht zu lange.

«Wir könnten uns an Ihrem Modell orientieren, mit einer dreimonatigen Rekrutenschule, gefolgt von Wiederholungskursen, entweder jedes Jahr oder alle zwei Jahre, mal sehen.»

Und die Berufsarmee soll bestehen bleiben?

Ja, die Wehrpflicht-Armee wäre als Reserve gedacht und würde zusätzlich zur Berufsarmee eingesetzt werden. Somit hätten wir eben die zusätzliche Tiefe.

Was mögen Sie, abgesehen vom militärischen Aspekt, sonst noch an der Schweizer Armee?

«Was ich an Ihrem Modell bewundere, ist die Verbindung zwischen Armee und Nation.»

Das sind Zivilisten, die ihre militärische Ausbildung absolvieren und dann in den zivilen Bereich zurückkehren, aber immer noch eine Verbindung zur Armee haben. Im Lebenslauf können sie ihren militärischen Dienstgrad angeben, etwa den eines Offiziers, und das Engagement wird gesellschaftlich anerkannt. Ihre Gesetze zwingen den Arbeitgeber dazu, Bürger, welche in den WK müssen, freizustellen. Und dann wird das ganze auch noch von der Gesellschaft akzeptiert.

Aber es will ja nicht jedermann in der Schweiz in die Armee. Dafür gibt’s den Zivildienst.

Genau, und ihr Zivildienst-Modell ist ja sehr erfolgreich. Ich würde sogar sagen, dass ihr Modell effizienter ist als unseres, weil es organisatorisch einfach besser durchdacht ist.

Glauben Sie, dass das Schweizer Armeemodell wirklich auf Frankreich übertragbar ist?

Womit wir wieder bei der Frage wären, ob man die Wehrpflicht wieder einführen sollte. Das wäre kompliziert. Gleichzeitig trauert man in Frankreich der Wehrpflicht aber auch nach.

«Viele Leute sagen: ‹Ach! So weit wäre es nie gekommen, wenn wir den Militärdienst noch hätten›.»

«So weit wäre es nie gekommen» – was heisst das?

Ich denke da an gewisse Probleme, die die sozialen Bindungen in Frankreich schwächen: an Unzivilisiertheit, Polemiken über die Herkunft usw. Der Militärdienst ermöglichte eine soziale Durchmischung, die, ich konnte sie selbst miterleben, sehr real und lebendig war. Die französischen Soldaten waren alle immer noch mit der Armee verbunden. Es gab damals natürlich auch einen ganzen Humor zur Armee: Die Witze von Coluche [französischer Komödiant] über das Militär, Filme wie «Mais où est donc passé la 7e compagnie» und «Les bidasses en vadrouille», die die Armee verhöhnten und die wiederkehrende Figur des besoffenen Adjutanten. Aber diese Witze und Sticheleien waren gutmütig.

Welche Einheiten haben Sie während ihrer Karriere befehligt?

Als aktiver Offizier trat ich im Rang des Leutnants in die Fremdenlegion ein. Ich entschied mich dazu, weil die Legion einen extrem krassen Mythos rund um sich aufgebaut hatte. Zwanzig Jahre später befehligte ich das 1. Fremdenregiment der Kavallerie in Orange im Süden Frankreichs.

Waren Sie auch in Kriegsgebieten?

Ich war 1991 im Golfkrieg dabei. Für uns Franzosen war das kein grosser Krieg. Etwas später verbrachte ich gut anderthalb Jahre auf dem Balkan, während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien.

Was ist ihre Sicht auf den Ukraine-Krieg?

Ich sehe ein Volk, das für seine Freiheit kämpft. Sie sind dazu viel mehr bereit, als die Tyrannen verstehen oder wir verstanden haben.

«Dass die Russen 2014 die Krim annektierten, hat die Ukrainer ernsthaft gekränkt. Schliesslich sind Russen und Ukrainer eigentlich eine Familie.»

1991 wurden die beiden getrennt, gingen aber im Guten auseinander. Ab 2014 wurde der Donbass dann durch die Rotation der ukrainischen Soldaten, die dort im Einsatz waren, zur Schule der heutigen Armee. Das hat Putin nicht gemerkt. Darum trifft er heute auf eine Armee, die schnell eine grosse Truppenzahl mobilisieren konnte. Abgesehen vom Schweizer Modell sehe ich auch ein ukrainisches Modell für Frankreich: ein harter Kern, die Berufsarmee, und ein mobilisierbarer Teil, der der Berufsarmee Personal zuführt.

In einer Ukraine-ähnlichen Situation: Wie lange könnte die französische Armee durchhalten?

Bei der ‹Verbrauchsrate›, die die ukrainische Armee zurzeit hat, fürchte ich, nicht lange.

Ihr Name klingt osteuropäisch. Woher kommt er?

Mein Grossvater hiess Ivan Jakowlef und stammte aus einer Familie mit langer Militärtradition. Er wurde zum Gegner des zaristischen Regimes, trat aus der Armee aus und schloss sich den sozialistischen Revolutionären an. 1905 floh er unter skandalösen Umständen aus Russland, kehrte 1917 jedoch wieder zurück. Er unterstützte dann die Kerenski-Regierung, die dann während der Oktoberrevolution von den Bolschewiken gestürzt wurde. 1918 kehrte er ein letztes Mal nach Russland zurück, um schliesslich 1925 endgültig nach Frankreich auszuwandern. Er war weder ein roter, noch ein weisser Russe. Ich sage gerne: ein rosa Russe.